Ein Kommentar in düsteren Zeiten: Oh Fußball, wo gehst du nur hin?

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Nach dem Spiel des FC Barcelona bei Real Sociedad traf es ich mich wieder mit voller Wucht: Dieses Gefühl der Unzufriedenheit, das mich bereits seit einiger Zeit begleitet. Eigentlich konnte mein Herzensklub erstmals seit beinahe zehn Jahren wieder im Estadio Anoeta gewinnen. „Woher diese Ernüchterung?”, fragte ich also und wagte den Blick in mich. Was ich vorfand war ein Sturm der Ernüchterung, der über viele Jahre nach und nach tiefe Wunden in mein Inneres zeichnete. In der Tat bereiten mir die Entwicklungen im Fußball größte Sorge und ich frage mich: Wo bleibt der Zauber, wo die Lust am Spiel? Kurzum: Existiert der Fußball überhaupt noch als Selbstzweck oder ist er längst im Strudel der bloßen Verwertbarkeit untergegangen?

 

„Wir haben demonstriert, dass man erfolgreich sein, aber trotzdem genussvoll ein attraktives Spiel bieten kann.” Dies war die Antwort von Johan Cruyff auf die Frage, was seine Tätigkeit beim FC Barcelona für den spanischen Fußball bewirkt habe. Und als sein Sohn Jordi 1996 bei der EM in die niederländische Nationalmannschaft berufen wurde, gab er ihm bloß Folgendes mit: „Genieße es!” Denn, so die Meinung des Genies: „Fußball spielt man, um Spaß zu haben und um hundert Prozent aus seinen Möglichkeiten herauszuholen.” – „Fußball spielt man, um Spaß zu haben.” Ein Satz, in Stein gemeißelt. Wie häufig hören wir solche oder ähnliche Töne heute noch? Und selbst wenn: Wem würden wir diese heute noch tatsächlich abnehmen?

Die Worte und Taten von Johan Cruyff kamen bereits in den 1990er-Jahren (aus dieser Zeit stammen obige Zitate) einer Revolte gleich. Es war eine Revolte gegen den beginnenden Zeitgeist der bloßen Verwertbarkeit aller Dinge dieser Welt. Ein Zeitgeist der besagt: Der Erfolg ist das Maß aller Dinge – selbst wenn er auf erbärmliche und freudlose Weise zustande kommt. Über 20 Jahre später hat sich daran nichts verändert, ganz im Gegenteil; der Fußball scheint tief eingewoben in die Nebelsuppe der reinen Verwertbarkeit und dem Primat des Erfolgs. Das Ergebnis? Ein Gefühl der Entfremdung.

Der verarmte Wanderweg als Sinnbild unserer Welt

Tatsächlich stellt sich bei mir eine Art Entfremdungsgefühl ein, wenn ich das heutige Fußballgeschehen verfolge. Am wenigsten möchte ich in diesem Kommentar darauf abzielen, einzelne Spieler, Trainer, Funktionäre oder Fans stumpfsinnig dafür verantwortlich zu machen; denn in meinen Augen handelt es sich hierbei in erster Linie um ein systematisches Problem, dass das Fußballgeschäft als Ganzes durchzieht und sehr komplex und tief in ihm verwurzelt ist.

Genau genommen ist der Fußball nur das Abbild einer krankhaften Welt, in der alles direkt verwertbar sein und folglich immer sofort einen direkten Nutzen offenbaren muss, in der alles auf den Erfolg und Gewinn getrimmt ist, alles immer schneller und effizienter gehen soll, kurz und knapp: immer nur das Ziel entscheidend ist und der Weg dorthin, so lange dieser schnell überwunden wird, gar keine Rolle mehr spielt. Dass dabei vieles auf der Strecke bleibt, versteht sich wohl von selbst. Als würde man einen Wanderweg mit Schallklappen, ohne Hören, Fühlen, Riechen und Tasten und völlig gehetzt beschreiten, nur um schnellstmöglich am Ziel zu sein. Der Lilie am Wegesrand, dem Lindenbaum an der schimmernden Waldlichtung, dem verschneiten Tal oder dem hektischen Treiben eines Eichhörnchens schenkten wir dabei keine Aufmerksamkeit. Wie arm haben wir uns diesen Wanderweg dadurch gemacht? Und ich stelle mir die Frage: Möchten wir uns diese Welt und damit auch den Fußball zu einem solchen Wanderweg machen, den wir kaum bis gar nicht mehr wahrnehmen?

Welche Fragen können und müssen wir uns stellen?

Konkret könnten wir uns beispielsweise fragen, ob eine „Mega-WM” tatsächlich förderlich für unser Verhältnis zum Fußball ist, der Terminkalender für englische Mannschaften rund um die Weihnachtsfeiertage nicht völlig absurd anmutet oder der Eingriff reicher Investoren das Fußballgeschäft tatsächlich bereichert. Ob sich die Eintrittspreise noch in einem verträglichen Rahmen befinden, das Sponsoring und die allgemeine Vermarktung nicht Überhand nehmen oder die Transfer- und Gehältersummen im Bereich der sogenannten „Superstars” nicht allen Vernunftregeln spotten. Erst kürzlich äußerte sich auch Carlo Ancelotti in der Süddeutschen Zeitung zur Unsumme an Spielen, die es im heutigen Fußball zu absolvieren gebe: „Die wirtschaftlichen Interessen beeinträchtigen schon jetzt die Qualität, weil wir eben immer öfter auf den Platz müssen. […] Der Fußball könnte sich sozusagen selber fressen. Er wird zu sehr ausgepresst. Weniger Spiele, mehr Qualität. Da müssen wir hin”, so das Resümee des Bayern-Coachs.

Eine gestörte Beziehung: Entfremdung

Die Folgen davon, die ich an mir selbst beobachten darf, sind eine mehr und mehr fehlende oder gar gefühlskalte Beziehung zum Fußball. Wir wissen: Für eine erfolgreiche Beziehung braucht es immer zwei, die miteinander interagieren. In meinem Fall befinde ich mich auf der einen Seite, sehnend nach Freude, Spaß, Kreativität und Leidenschaft für den Sport an sich, während auf der anderen Seite der Fußball steht, der in einen Strudel aus Gewinnorientierung, Effizienz, Zielfixiertheit und Unaufrichtigkeit geraten ist. Das Resultat? Eine gestörte Beziehung, die ich als Entfremdung bezeichne.

Ich behaupte natürlich nicht, ein Ziel zu formulieren und danach zu streben bzw. einen Nutzen aus etwas ziehen zu wollen, sei an und für sich problematisch. Ganz im Gegenteil: Ein (gemeinsames) Ziel kann zusammenschweißen, zu Höchstleistungen treiben, motivieren, Freude bereiten und vieles mehr. Und einen Nutzen aus etwas zu ziehen, ist ebenfalls von Bedeutung für uns Menschen. Die Gefahr besteht jedoch in jeder Tat, jeder Handlung, ja fast schon in jedem Atemzug einen sofort sichtbaren und erkennbaren Nutzen zu suchen und alles ausschließlich darauf auszurichten. Gewissermaßen alles nur noch als Mittel zu einem Zweck zu betrachten und nichts mehr als Selbstzweck an sich. Oder um es in der Metapher des Wanderwegs darzustellen: Nur zu wandern, um möglichst schnell ans Ziel zu kommen, dabei nichts wahrzunehmen und ihn nur als Mittel zum Zwecke der Beeindruckung anderer (oder gar sich selbst) zu missbrauchen. Das ist der direkte Weg in die Entfremdung – ein Pfad, an dessen Ende wir früher oder später unglücklich werden.

Oh Fußball …

Der Fußball heutiger Zeit vermittelt mir in zunehmendem Maße nur noch billige Spektakel, künstlich erschaffene Marken, falsche Versprechungen, eine Besessenheit auf Verwertbarkeit, Quantität vor Qualität; alles in allem: Verarmung und Entfremdung, wo das Auge auch hinsieht! Oder, um es mit Johan Cruyff zu sagen: „Der Fußball wird immer mehr durch Taktik und Geld erstickt.” Und ich frage mich: Oh Fußball, wo gehst du nur hin?

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