Das Geheimnis des Kurzpassspiels

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Es ist nun mehr ein Jahrzehnt vergangen seit der Pressekonferenz mit den Spielern und Funktionären des FC Bayern zum Anlass des Champions Leaque Halbfinals im Jahre 1999, die Erinnerungen an dieses Ereignis

verblassen allerdings nur sehr langsam. Zu sehr haben die Protagonisten zur allgemeinen Belustigung beigetragen, als sie angesprochen auf den möglichen Halbfinalgegner Dynamo Kiew ihre chronisch selbstbewusste und dominante Haltung aufgegeben haben und kleinlaute vermittelnde Zeilen sprachen. Die Gesichtszüge entgleisten, die Knie zitterten, die Finger zuckten – die Verantwortlichen haben die Hoheit über ihr zentrales Nervensystem verloren. Nach dieser kurzen Phase der Lähmung sprach Mario Basler jene Worte aus, die bei wohl allen Sympathisanten des Vereins als Endlosschleife in ihrer Gedankenwelt rumspuckten: „Bloß nicht Kiew!“. Dass diese Ängste nicht unbegründet waren, verrät ein Studium der Ergebnistafel aus dem Jahre 1999. Arsenal London wurde in der Zwischenrunde mit 3:1 abgefertigt, im Viertelfinale hatte sodann Real Madrid dem Spiel von Kiew nichts entgegenzusetzen und wurde mit einem 2:0 aus dem Turnier geworfen. So groß diese Vereinsnamen auch sind, kann man mit ihnen nur teilweise die Erscheinungen auf der Pressekonferenz und die ungewohnte Zurückhaltung der Bayern erklären. Die Grundlage ihrer Ängste bildete vielmehr die Art und Weise, wie Dynamo Kiew im bisherigen Turnierverlauf aufgetreten ist und die Gegner dominiert hat. Die Dominanz entsprang dem System, welches sie praktizierten und das gemeinhin als „Kurzpassspiel“ bezeichnet wird. Mit kurzen Passstafetten ließen sie nicht nur den Ball sondern auch den Gegner laufen, bis sich in der Schnittstelle eine Lücke auftat, in welche zunächst der Spieler – nicht selten ein gewisser Shevchenko – und unmittelbar im Anschluss der Spielball hineinstach. Und dennoch ist Dynamo Kiew gegen die Bayern ausgeschieden, nachdem man im Heimspiel nur 3-3 gespielt hat, was hauptsächlich durch den berühmt berüchtigten „Bayern-Dusel“ bedingt war. Das Kurzpassspiel konnte sich nicht durchsetzen und wurde besiegt. Zurück blieben viele neue Anhänger dieser Spielart, die sich viele Jahre in Geduld üben mussten, bevor ihre Sehnsucht nach jenem Spiel, welchem gegenwärtig der Ruf anhaftet, perfekt zu sein, gestillt wurde. Ein neues Zeitalter wurde eingeleitet, in dem der FC Barcelona die Rolle des Hauptprotagonisten einnahm.

Der Reiz des Spiels

Der Spielball besitzt eine runde Formgebung, die weder als besonders schön noch als hässlich empfunden werden kann. Seine besondere Schönheit entfaltet der Ball erst dann, wenn er sich in Luft und Raum bewegt und dabei den physikalischen Gesetzen der Trägheit und der Erdanziehung trotzt. Viele schauen genüsslich zu, wenn der Ball seine Bahnen in den größten Fußballstätten dieser Welt zieht. Ihnen erscheint das Wirken des Balles wie die plötzliche Eingebung eines Künstlers, der auf seinem Blatt Papier wirre, sich kreuzende Linien zeichnet und die Bedeutung seines Werkes dem Belieben seiner Bewunderer überlässt. Manchmal aber, so unser Gefühl, manchmal entfacht der Ball einen Zauber, der alle in seinen Bann zieht. Dann wendet er sich an all unsere Sinne, lässt uns Süßes schmecken, Wärme fühlen und eine musikalische Symphonie erhören. Jeder Ton baut auf dem anderen auf, die Instrumente verschmelzen ineinander, alles fügt sich zu einem wundervollen Ganzen. Beethovens 10. Symphonie, sein Meisterstück, denkt sich ein jeder. Wenn Beethoven das Spiel des FC Barcelona auf dem Klavier nachgespielt hätte, wäre es gewiss etwas Besonderes geworden. Der FC Barcelona fesselt die Welt mit dem harmonischsten Spiel aller Zeiten. Der Ball ruht fast nie, ist stetig in Bewegung und erspart der Welt unschöne Zäsuren im Spiel, welche das Gesamtbild trüben. Sie trüben es, da der Mensch ein Wesen ist, welches sich nach Harmonie und Symmetrie sehnt und diesen zuwiderlaufende Ausprägungen als unästhetisch empfindet. Crescendo und Decrescendo wechseln sich ab, wenn das Spiel des FC Barcelona in unmittelbarer Strafraumnähe an Geschwindigkeit zulegt und den Gegner wie einen tölpelhaften Tanzpartner erscheinen lässt, um im Anschluss daran wieder Ruhe und Besinnung einkehren zu lassen. Und dennoch ist das Spiel dem ein oder anderen zu berechenbar, es fehlten die Überraschungsmomente, die Tore aus dem nichts. Schönheit liegt letztlich doch im Auge des Betrachters. Im Verhältnis zu anderen Spielarten zeigt sich jedoch, dass relativ wenige das Spiel als unschön abweisen.

Risikominimierung als Leitmotiv

Nicht dem Belieben überlassen sind die Effektivität und die Erfolgsquote einer Spielart. Der FC Barcelona hat mit dem Kurzpassspiel in den vergangenen Jahren beachtliche Erfolge errungen. Die Kontinuität in der Leistung ist so unglaublich, dass man das Champions Leaque Halbfinale und sogar das Finale mit ruhigen Gewissen aus das Sicht der FC Barcelona-Funktionäre als Betriebsausflug ausweisen kann. Die zentrale Frage ist, inwieweit die Erfolge vergangener Tage und der Gegenwart der zugrunde liegenden Spielart zuzurechnen sind.  Das Hauptanliegen eines Trainers bei der Auswahl des Kurzpassspiels als Leitlinie für den Stil seiner Mannschaft ist es, das Risiko zu minimieren. Durch die Verkürzung der Passdistanzen wird die Fehlpassquote verringert und der Ball durch diesen Umstand länger in den eigenen Reihen gehalten. Je länger die Mannschaft im Ballbesitz verbleibt, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich in des Gegners Defensivverbund eine Lücke auftut. Die Rolle des Gegners beschränkt sich auf einen Reaktionsfußball, dem die Fehleranfälligkeit immanent ist. Wer agiert, ist im Vorteil, wer reagiert, zeitlich stets im Nachteil. Es geht also in erster Linie um die Verlagerung eines Risikos. Das Kurzpassspiel ist aber nicht bedingungslos und hindert darum andere Mannschaft an der Adaption an diese Spielart. Es verlangt ein überragendes Spielverständnis und eine überragendes Antizipationsvermögen der Spieler. Beim FC Barcelona müssen alle Spieler in der Lage sein, dass Spiel mitzugestalten oder es zumindest zu verstehen. Die Anforderungen an die technischen Fertigkeiten der Spieler sind enorm. Auch eine hohe Laufbereitschaft und ein ausgezeichneter Teamspirit im Sinne einer Aufopferung für die Mannschaft werden vorausgesetzt. Die Ausbildung dieser Eigenschaften erfolgt beim FC Barcelona durch die vereinseigene Jugendakademie. Es vergehen viele Jahre, bis die Jugendspieler das System bis in Detail verinnerlicht haben. Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter verwunderlich, dass vereinsexterne Neuzugänge lange Zeit Schwierigkeiten haben, sich in das Spiel zu integrieren. Das prominenteste Beispiel bildet David Villa, der im letzten Jahr sehr häufig wie ein Fremdkörper im Spiel wirkte. Aufgrund dieser hohen Voraussetzungen ist das Kurzpassspiel eine Rarität in der Fußballwelt und ein Privileg für jeden Spieler und Fan, der daran teilhaben kann.

Die Perfektion – eine Utopie

Diese Spielart ist gleichwohl auch mit Nachteilen verbunden, die jedoch bei an der Grenze zur Perfektion praktiziertem Kurzpassspiel die Vorteile nicht einmal im Ansatz aufwiegen können. Es erfordert von jedem Spieler eine gewisse Selbstaufgabe und Zurückhaltung, damit der Zweck der Spielart nicht durch ein ungezügeltes übermotiviertes Wirken auf dem Platz gefährdet wird. Die Spieler müssen einen Kompromiss finden zwischen dem Innehalten zugunsten der Integrität des Spielsystems einerseits und ihrem Verlangen nach der Offenbarung ihrer individuellen Klasse andererseits. Dass dies einem Balanceakt gleichkommt, versteht sich von selbst. Aber sofern jeder die richtige Balance findet, vergütet das System den Spielern ihre Aufopferung doppelt und dreifach. Ein weiterer potenzieller Nachteil ist das Spielverhalten bei gegnerischem Ballbesitz. Das Spiel ist auf eigenen Ballbesitz ausgelegt und könnte die Spieler bei fehlendem Ballbesitz mangels Erfahrung dazu verleiten, die falschen Entscheidungen zu treffen. Mit anderen Worten: Die Spieler haben kaum Übung mit dem passiven Spiel. Nicht ohne Grund spielt der FC Barcelona bei gegnerischem Ballbesitz ein sehr laufintensives und zweikampfbetontes Pressing und verteidigt sein Tor bereits in der gegnerischen Hälfte. Alle Mechanismen sind darauf fixiert, schnellstmöglich wieder den Ballbesitz zu verschaffen. Dabei kommt es auch schon mal vor, dass die katalanischen Verteidiger die Verteidiger der gegnerischen Mannschaft unter Druck setzen. Schließlich sei noch die erhöhte Konteranfälligkeit als weiter Nachteil des Kurzpassspiels genannt. Für das Kurzpassspiel sind viele Anspielstationen notwendig, sodass auch die defensiv ausgerichteten Spieler tief in die gegnerische Hälfte vordringen müssen und in die Spielgestaltung eingebunden werden. Dies eröffnet selbstredend Räume für Konter. Nicht selten kommt es beim FC Barcelona bei einem schnell vorgetragenen Konter hinten zu einer Drei-gegen-Drei-Situation. Auch das bereits genannte starke Pressing bei gegnerischem Ballbesitz, bei dem zwei oder drei Spieler den ballführenden Spieler attackieren, verursacht Lücken, wenn es fruchtlos geblieben ist und der Spielball die Spieler passieren konnte. Ein makelloses Spielsystem ist eine Utopie. Das Kurzpassspiel des FC Barcelona aber darf für sich beanspruchen, das vielleicht stärkste realisierbare Spielsystem seit der Erfindung des Fußballs zu sein.

Eine Evolution

Dynamo Kiew hat es allerdings nicht zu dem erhofften Erfolg verholfen. Dies mag daran liegen, dass sie es aufgrund der im Verein vorherrschenden Bedingungen nicht in der heute bei dem FC Barcelona bewunderten Vollendung anwenden konnten. Der FC Barcelona verfügt ausschließlich über Spieler von Weltklasseformat, deren Fähigkeiten sie nicht nur in die Lage versetzen, das Spielsystem in Perfektion umzusetzen, sondern ihnen auch die Möglichkeit eröffnen, ein Spiel mit einem Geniestreich zu entscheiden. Das Kurzpassspiel bildet ein riesiges Fundament, auf deren Grundlage das individuelle Können vollends zur Geltung kommt. Wenn ein Weltfremder das Spiel des FC Barcelona zum ersten Mal bewundern würde, ohne „La Masia“ zu kennen, käme ihm das Spiel wie ein 6-er im Lotto vor. Dabei ist es nur eine Evolution.  Visca el Barça!

 

Raphael L.

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