Vitor Roque und Barça: Hat La Masia ein Mittelstürmer-Problem?

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Barcelonas Jugendakademie gilt als eine der besten Europas. Dennoch stehen die Katalanen mit Vitor Roque (18) kurz davor, ein Talent aus Brasilien zu verpflichten. Warum sind unter so vielen vielversprechenden Talenten in “La Masia” so wenig “Echte Neuner” zu finden?

Munir El Haddadi: Barças letzter echter Mittelstürmer aus La Masia

Isaac Cuenca, Gerard Deulofeu, Cristian Tello, Pedro Ledesma, Adama Traoré, Munir, Marc Cardona, Abel Ruíz, Ansu Fati, Abde Ezzalzouli, Ángel Alarcón, Lamine Yamal – der FC Barcelona brachte in den letzten Jahren viele große Sturmtalente hervor. Doch klassische Neuner darunter sind eine Seltenheit.

Im Alter von 15 Jahren erzählte Munir El Haddadi beiläufig davon, dass er von den spanischen Erstligisten FC Getafe, Osasuna Pamplona, aber auch Premier-League-Gigant Manchester City und einem der größten Vereine aller Zeiten, dem FC Barcelona, angesprochen worden sei. Er war voller Selbstvertrauen – zurecht: 32 Tore in 29 Spielen für Rayo Majadahondas Jugendmannschaft Cadete A lockten die Top-Scouts Europas an. Er unterschrieb schließlich bei Barça und knüpfte prompt an seine Leistungen an. Der Gewinn der UEFA Youth League mit Barças Juvenil A (Munir erzielte elf Tore in zehn Spielen), die Errungenschaft, gleich bei seinem Profidebüt drittjüngster Torschütze Barcelonas zu sein und die Nominierung für den Golden Boy Award waren nur einige seiner Erfolge. Die Zukunft sah für die schmächtige Nummer Neun rosig aus. Doch sechs Jahre später hatte er nur 33 Spiele für Barcelona bestritten und dabei insgesamt fünf Tore erzielt. Zwei ausgeliehene Saisons beim FC Valencia und Deportivo Alavés, wiederum mit jeweils 33 Einsätzen und insgesamt(!) 16 Toren, waren ebenso keine erfolgreiche Zeit. Es folgte ein Last-Minute-Wechsel im Winter 2019 zum FC Sevilla. Für die Andalusier sollte Munir zwar 113 Spiele bestreiten, doch darin nur magere 25 Tore erzielen. Es folgte ein Wechsel zum FC Getafe, für die Munir in 31 Partien siebenmal das gegnerische Tor traf, ehe sein Vertrag zum Sommer 2023 ausläuft und der Marokkaner ganz ohne Verein dastehen wird.

Es war nicht so, dass Munir sich oft verletzte. Es lag auch nicht daran, dass sein Profil nicht zu Barcelonas Spielstil passte; auch lag es nicht daran, dass er nicht über das erforderliche Talent und die erforderliche Arbeitsmoral verfügte. Seit seinem Abgang sind drei weitere vielversprechende Mittelstürmer aus Barcelonas Jugendakademie, Pablo Moreno, Abel Ruíz und Alejandro Marqués, zu anderen Vereinen gewechselt. Es gibt bei Barça immer wieder Verteidiger und Mittelfeldspieler, die kurz vor dem Sprung in die Profimannschaft stehen. Für Torhüter beginnt die Karriere in der ersten Mannschaft meist später, da kaum Rotationsbedarf besteht. Aber Stürmer? Ihre Karriere kommt tendenziell früh in Schwung. Warum haben die Katalanen dennoch in letzter Zeit keine Mittelstürmer gesehen, die auch nur kurz davor standen, in die erste Mannschaft aufzusteigen, sodass nun mit Vitor Roque ein Ausnahmetalent aus Brasilien verpflichtet werden will?

Der Prototyp des Barça-Neuners

Der FC Barcelona wurde immer mit großartigen Stürmern in Verbindung gebracht, in jüngerer Vergangenheit darunter Erling Haaland, Sergio Agüero und Harry Kane. Von diesen ähnelte Agüero am meisten der idealen Nummer Neun für Barcelona, welcher seiner Zeit im Sommer 2021 auch verpflichtet worden ist. Der niedrige Körperschwerpunkt, schnelle Richtungswechsel und die unglaubliche Durchschlagskraft bei geringer Rücklage sind allesamt Attribute, die für das flexible Positionsspiel der Katalanen geeignet sind. Um zu verstehen, was von einer Nummer Neun in Barcelona erwartet wird, muss man überraschenderweise nicht weiter als bis zur B-Mannschaft Barça Atlètic blicken. Victor Barberá ist ein 18-Jähriger, der für die B-Mannschaft unter Rafa Márquez spielte. Was in der abgelaufenen Saison auffiel, war das Ausmaß, in dem er versuchte, sich in den Spielaufbau einzubringen. Er ließ sich oft zurückfallen, um eine Überzahlsituation zu schaffen, und sein Kombinationsspiel war exquisit. Das ist, was ein Barça-Stürmer haben muss. Die Mannschaft, die Positionsspiel übt, wird versuchen, sich durch den Gegner hindurchzuspielen, statt viele Flanken zu schlagen oder auf Konter zu lauern. Leider wechselt Barberá nun zum FC Brügge und trifft dort auf ein anderes abgewandertes Sturmtalent aus La Masia: Ferran Jutglà.

Die richtigen Positionen einzunehmen und die richtigen Läufe zu machen, macht den Unterschied. In einem System, das auf Konter oder dem Einsatz eines Zielspielers basiert, macht der physische Aspekt eines Spielers einen großen Unterschied. Bei einer Mannschaft wie Barcelona stehen jedoch die Positionierung und das Lesen des Spiels an erster Stelle. Für Stürmer ist es natürlich wichtig, diszipliniert zu sein. Für einen Stürmer ist es unabhängig vom Spielerprofil unerlässlich, regelmäßig Tore zu erzielen. Schließlich ist einer der entscheidenden Faktoren für einen Stürmer die Chemie. Es gibt wohl kaum ein Beispiel, das dies besser zum Ausdruck bringen könnte als Luis Suárez. Seine telepathische Verbindung mit Lionel Messi war zwischen 2014 und 2020 für jeden Gegner tödlich. Gegen Ende seiner Zeit bei Barcelona ließen seine Torchancen, einschließlich seines zuvor chirurgisch präzisen Abschlusses, gelinde gesagt etwas nach. Die Chemie war jedoch immer noch vorhanden. Dieser Faktor ist besonders in Mannschaften wie Barcelona von entscheidender Bedeutung, wo Timing, Positionierung und gutes Zusammenspiel für die Stürmer entscheidend sind. Doch warum konnten Stürmer wie Munir oder Ruíz in einem System, in dem sie seit ihrer Kindheit trainiert wurden, keine guten Leistungen erbringen?

Mögliche Probleme und Lösungen für Barças Neun

Im Optimalfall hat man natürlich direkten Einblick in die Trainingseinheiten der Jugendspieler. Immerhin: Im Trainingshandbuch von Barcelonas Juvenil A aus dem Jahr 2005 sind von keinem Geringeren als Alex García, dem Leiter der Nachwuchsförderung von 2015 bis 2021 und zuvor Trainer von Barcelonas U16 und U19, einige Übungen mit seinen Beobachtungen dazu aufgeführt, die ein paar Einblicke ermöglichen. Beispielsweise in der Übung “Ejercicio de tiro”, also einer Schussübung, zeigt eine Grafik zunächst die Bewegung ohne Ball. Der Spieler muss hinter(!) das Tor laufen, den Ball aufnehmen, zurück in den Strafraum dribbeln, den Ball passen, ihn in einem bestimmten Bereich wieder annehmen und zuerst direkt aufs Tor schießen, dann in der zweiten Wiederholung an den gegenüberliegenden Pfosten schießen und in der dritten einen geraden Schuss auf die andere Seite des Strafraumes abgeben. Bei dieser Übung wird der Schwerpunkt auf schnelles Passen und Schießen mit minimalen Ballberührungen gelegt. Übungen, die diese Faktoren trainieren, gibt es in diesem Handbuch zuhauf.

Im zweiten Beispiel lautet die Übung “Schnelles Schießen zu zweit”. Da die beiden Spieler, die gleichzeitig im Strafraum auftauchen, keine gegenseitige Abhängigkeit haben, liegt der Schwerpunkt hier auf Beweglichkeit, Gleichgewicht, Kombinationsspiel und Schießen mit minimalen Berührungen. Auch hier wird klar: Bei La Masia existiert immer ein klarer Fokus auf bestimmte Aspekte. Dies reicht natürlich nicht für ein vollständiges Bild der Ausbildung, aber es ermöglicht, einen Grund für die geringe Erfolgsquote der Nachwuchsstürmer in der ersten Mannschaft zu finden: Diese Übungen sind alle bis zu einem gewissen Grad ideal. Sie gehen davon aus, dass das im Training geübte ideale Positionsspiel auf dem Spielfeld reproduziert wird. Das ist zwar im Grunde die Art und Weise, wie Training funktioniert, aber die Arten von Gegnern, mit denen Barcelona konfrontiert wird, sind unterschiedlich. Jeder Spieler muss sich an den Gegner anpassen, nicht nur die Stürmer. Für Stürmer ist es jedoch schwieriger. Das ist es, was Spieler wie Luis Suárez so besonders macht. Sein Abschluss und seine Positionierung im Strafraum waren beeindruckend, aber bei Bedarf konnte er auch durch eine Einzelaktion zum Erfolg kommen.

Wenn man sich an Abel Ruíz und Munir El Haddadi erinnert, könnte ihr Mangel an solchen Eins-gegen-Eins-Duellen ein Hindernis gewesen sein. Dies führte dazu, dass sie vor dem Tor zu selten gefährlich wurden. Ist das bei mehreren Spielen der Fall, ist ein Vertrauensverlust immer wahrscheinlicher, der dazu führt, dass die Chancen auf weitere Einsätze sinken. Dieser wiederkehrende Zyklus führt letztendlich zu einer Verschlechterung der gesamten Leistung und Form. Doch warum tritt dieses Problem bei Barcelona so häufig auf? Bis zu einem gewissen Grad können Stürmer eine Position einnehmen, bei der die Physis tatsächlich einen großen Unterschied macht. Das Thema Körperbau ist in Barcelona allgegenwärtig, insbesondere wenn es um schmächtige Spieler wie Gavi oder kurz vor dessen Beförderung in den A-Kader Riqui Puig geht.

Selten berücksichtigt wird jedoch das Ausmaß, in dem der schmächtige Körperbau dem Spieler hilft. Aber für Stürmer scheint es, als würden die Nachteile eines kleinen Körpers die Vorteile bei weitem überwiegen. Das bedeutet nicht, dass Spieler mit einer guten Physis Vorrang haben müssen. Es bedeutet, dass Barcelona auf der Mittelstürmerposition möglicherweise weiter vom idealen Spielstil abweichen muss als auf anderen Positionen. Anders ausgedrückt: Wenn Positions- und Passspiel der Mannschaft hervorragend sitzen, würde ein in La Masia produzierter Neuner wahrscheinlich gut abschneiden. Wenn die Mannschaft zwar über technisch begabte Spieler verfügt, aber das erforderliche Spielniveau noch nicht erreicht ist, sind die Chancen des Stürmers, erfolgreich zu sein, besser, wenn er physisch ausgeprägter und in der Lage ist, direkt alle möglichen Chancen zu nutzen (beispielsweise Erling Haaland).

Vitor Roque und Barcelona – klappt das?

Seit einigen Wochen gilt der Wechsel als sicher; eine mündliche Zusage habe es laut mehreren Medienberichten gegeben. Vitor Roque, dessen Spitzname in Brasilien Tigrinho (“Kleiner Tiger”) lautet, ist mit einer Körpergröße von 1,72 m ein eher kleiner Mittelstürmer. Doch, dem Spitznamen gerecht werdend, zeichnet Roque vor allem eine gute Physis und viel Kraft aus. Typisch für brasilianische Angreifer brilliert das junge Talent schon jetzt durch gute Ballbehandlung, gepaart mit einer auffälligen Schnelligkeit. Eine Statistik dürfte Barça-Trainer Xavi, dessen Spiel sich unter anderem durch aggressives Pressing auszeichnet, besonders freuen: In der brasilianischen Serie A hatte Roque in der abgelaufenen Saison die drittmeisten Balleroberungen zu verzeichnen, was für einen Mittelstürmer herausragend ist.

Nicht nur aufgrund seiner Körpergröße, sondern vor allem wegen seiner offensiven Vielseitigkeit, seiner Mischung aus guter Physis und Spritzigkeit und seinen Fähigkeiten am Ball, vergleichen ihn Südamerika-Experten mit Carlos Tévez und – wie für Barça gemacht – Sergio Agüero. Zwar wären 35 Millionen Euro Ablöse + Boni für einen 18-Jährigen ein gewisses Risiko, doch klar ist, dass Barcelonas derzeitige Nummer Neun, Robert Lewandowski, sich bereits im Herbst seiner Karriere befindet. Vielleicht ist angesichts der komplizierten Situation für Stürmer aus der Jugendakademie ein externes Talent wie Vitor Roque ja gerade das ersehnte Heilmittel.

Clemens Wustmann
Clemens Wustmann
Blaugrana im Herzen seit 2001
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2 Kommentare

  1. Guter Artikel!

    Ich habe grosse Hoffnung, dass sich dieser Transfer bezahlt machen wird und Roque bei uns eine Ära prägen kann und einer der besten 9er wird, die Barça je hatte. Bislang ist Suaréz in dieser Hinsicht ganz klar die Nr.1 !

    Übrigens: Heute Abend um 21:00 kommt es zum Aufeinandertreffen zwischen Roque und Endrick. Dürfte interessant werden, weil es die beiden zukünftigen 9er von Barça und Real sind.

    • Nachtrag zum Spiel:

      Roque und Endrick heben sich eindeutig von ihren Mitspielern ab. Man bemerkt sofort, dass die Beiden einzigartig sind. Waren gestern die beiden besten bzw. einer der Besten auf dem Platz. Bezüglich Endrick ist es schade, dass wir leer ausgegangen sind. Der Junge macht einfach einen unglaublich reifen Eindruck, sein Positionsspiel, seine Übersicht, sein Abschluss, und der er ist gerade mal 16 – da kann man Real nur gratulieren!

      Roque, den wir hoffentlich bald in unserem Team begrüssen dürfen, steht ihm in Nichts nach. Absolut überragend der Typ! Vor einer Weile hatte ich mir mal Youtube-Videos von ihm reingezogen, als er mit Barça in Verbindung gebracht wurde. Auf mich hatte er Ähnlichkeiten zu Depay, weshalb ich nicht so überzeugt war. In den letzten Wochen verfolge ich ihn aber intensiv und schaue mir die Spiele allein wegen ihm an und muss sagen, wie falsch ich lag! Er bringt eine sehr starke Physis mit, ist sehr beweglich, kaum vom Ball zu trennen, hat eine starke Ballbehandlung, kranken Schuss, starken Abschluss und auch seine Übersicht für die Mitspieler ist hervorragend. Zudem ist er pfeilschnell. Schnelle 9er hatten wir seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr. Und allgemein ist er für sein Alter sehr weit. Er hat viele Ähnlichkeiten zu Suaréz.

      Sage ich, dass er bei Barça ganz sicher funktionieren wird? Nein! Das er der nächste Suaréz wird? Nein! Das können wir alles nicht wissen, denn Spanien ist halt nicht Brasilien. Der Fussball hier ist anders, generell Barça ist anders. Hier reicht es oft nicht, einfach nur Talent zu haben oder für sein Alter schon weit zu sein. Vor allem junge 9er haben bei Barça ihre Probleme, wie wir bereits wissen. Hier sind schon ganz andere gescheitert, die teils sogar deutlich mehr Talent hatten als Roque. Aber ich bin zuversichtlich, dass Roque den Bann brechen und sich als ein starker Transfer und eine gute Investition für die Gegenwart und Zukunft herausstellen wird. Mit Lewa hat er hier auch den vermutlich top 5 besten 9er in der Geschichte als sein Mentor.

      Ich hoffe, dass der Transfer zu Stande kommt!

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